von Kahoka
Über den Schamanismus
Der erste Teil dieses Artikels entstand aus einem Referat, das ich im Januar 2004 während meines Psychologie-Studiums im Rahmen eines Seminars über veränderte Bewusstseinszustände hielt. Vom wissenschaftlich-psychologischen Standpunkt betrachtet, kann ich auch heute noch dahinter stehen. Von einem spirituellen Betrachtungspunkt aus gesehen, trifft es den Kern der Sache jedoch nur ansatzweise, denn seit ich als Schamanin in die Tradition der 7 Heiligen Stämme eingeweiht wurde, hat sich mein Verständnis von Schamanismus deutlich gewandelt. Auch dazu will ich weiter unten einiges sagen, zunächst aber die wissenschaftliche Sicht vorstellen.
Schamanismus aus wissenschaftlich-psychologischer Sicht
1) Was ist Schamanismus
Das Wort Schamane stammt ursprünglich aus Sibirien: „saman“ ist der ewenkische Begriff für „einen Menschen, der weiß, einen der erhitzt oder erregt ist“. Dies wurde in Europa gleichgesetzt mit Zauberer, Medizinmann/frau, Hexendoktor oder Magier. Heute ist es der wissenschaftliche Begriff für einen „ekstatischen Heiler“. Doch was ist eigentlich Schamanismus? V.N.Basilov (1981) definiert es folgendermaßen: „Schamanismus ist ein Kult, dessen zentrale Idee der Glaube an die Fähigkeit einiger Individuen ist, von Geistern erwählt zu sein, um mit ihnen in einem Zustand der Ekstase zu kommunizieren und die Funktionen eines Mittlers zwischen den Welten der Geister und der des jeweiligen menschlichen Kollektivs einzunehmen.“ Ein Schamane ist also ein Auserwählter der Geister, die ihn lehren in Trance zu fallen und auf Seelenreise zu gehen. Er arbeitet immer im Auftrag und zum Wohl der Gemeinschaft, in der er lebt.
DAS SCHAMANISCHE WELTBILD: Für Schamanen ist die gesamte Natur beseelt, nicht nur Lebewesen sondern auch Gegenstände. Sie glauben an das Weiterleben der Seele nach dem Tod, an Ahnen- und Elementargeister, die sie als Helfer und Lehrer verehren. Die Fähigkeit der Seele, sich vom Körper zu lösen und auf Reisen zu gehen ist eines der wichtigsten Merkmale.
Der schamanische Kosmos ist aufgeteilt in verschiedene Ebenen, die miteinander verbunden sind. Der Schamane besitzt die Fähigkeit, diese Ebenen seelisch zu bereisen. Die Welt ist eingeteilt in die mittlere (bekannte) Welt, untere und obere Welt/en. Die Verbindung zwischen ihnen besteht oft in Form eines Baums, Flusses, Pfahls, manchmal auch in einem Loch oder einer Höhle. Auch die Realität ist in unterschiedliche Ebenen eingeteilt. Die Dimension der Geister ist allgegenwärtig, bleibt dem normalen Menschen aber verborgen. In der modernen Literatur wird sie oft auch die „nicht alltägliche Wirklichkeit“ genannt. Ereignisse in der normalen Welt haben Auswirkungen in der Welt der Geister und umgekehrt. Darin zeigt sich eine wechselseitige Abhängigkeit von Mensch und Kosmos. Nur Schamanen können sich durch ihre kontrollierte Trance gleichzeitig in der „normalen“ und der „Geister-Welt“, der alltäglichen und der nicht alltäglichen Wirklichkeit bewegen.
Schamanische Traditionen sind weltweit zu finden. Vermutlich ist es die älteste Form der Religion. Das zeigt sich auch in der staken Verbindung von Schamanismus und Jagd: der Schamane sicherte das Jagdglück und versöhnte die Tiergeister. In Agrarkulturen gab es hauptsächlich weibliche Schamanen, in Jagdgesellschaften mehr männliche.
2) Regionale Traditionen
SIBIRIEN UND DIE MONGOLEI sind das Gebiet des „klassischen“ Schamanismus. Hier ist der Seelenflug, also die Trennung von Geist und Körper, zu Hause. Die Schichten des Kosmos sind durch einen Berg, Baum oder eine Stütze verbunden. Die Initiation eines Schamanen geschieht häufig durch eine schwere Krankheit, die sogenannte „Schamanenkrankheit“, die oft über Wochen oder sogar Monate dauern kann. Dabei quälen den Initiaten Visionen von Folter oder Zerstückelung durch die Geister. Überwindet er die Krankheit, so hat er die Geister besiegt. Er gilt als berufen und wird zu einem Lehrer geschickt. In Sibirien gibt es zwei grundlegende Elemente im Schamanismus: Einmal den „typischen“ Schamanen, der an den Kräften der Welt teil hat. Er ist es auch, der in Trance die oberen und unteren Welten bereist um eine Situation zu verändern (z.B. Heilung, Auffinden von Jagdbeute). Der Clan-Schamane, dessen Amt innerhalb der Familie weitervererbt wird, verfällt dagegen nur selten in Trance, sondern arbeitet hauptsächlich mit Gebeten und Opfern. Er wird meist mit dem Berg- oder Himmelskult assoziiert. Seine Aufgaben ähneln eher denen, die wir heutzutage mit der Priesterschaft verbinden.
In SÜD- UND OSTASIEN gibt es eine Vielzahl von schamanischen Traditionen. In Ne-pal, Korea, Tibet, Malaysia, Indonesien, China, Japan und Indien zeigen sie sich auch heute noch, wenn auch manchmal überlagert von oder eingebunden in andere religiöse Traditionen, wie z.B. beim Lamaismus. Auch hier besteht die Initiation in einer rituellen Zerstückelung, doch ist die Seelenreise nicht überall zu finden.
Die schamanischen Traditionen NORDAMERIKAS sind ebenfalls zu vielfältig, um hier detailliert auf sie einzugehen. Generell findet sich der Seelenflug nur in den arktischen Gebieten, was auf eine alte Verbindung zu Sibirien hinweist. Je weiter südlich man geht, desto stärker verändert sich auch die Art der Initiation. War sie in Sibirien und anderen asiatischen Ländern noch ein ungewolltes, von den Geistern gegebenes Ereignis, so ist sie in weiten Teilen der USA ein traditioneller Teil des Erwachsenwerdens: die gewollte Visionssuche. Erst die Art der Vision gibt nun den Hinweis, ob ein junger Mensch zum Medizinmann oder zur Medizinfrau berufen ist. Auch stellen manche Experten die Frage, ob man nicht zwischen Medizinmännern/-frauen und Schamanen unterscheiden sollte, da nicht in allen Stämmen die Medizinmänner mit Trance arbeiten – was ja laut Definition zum Schamanismus dazu gehört.
In SÜD- UND MITTELAMERIKA gibt es dagegen wieder auffallende Ähnlichkeiten zum sibirischen Schamanismus. Ein Baum verbindet die Ebenen des Kosmos, und der Schamane gilt als „Meister der Trance“, der sich auf Seelenreise begibt. Auch taucht bei der Initiation wieder das Thema Zerstückelung auf. Auffallendster Unterschied ist jedoch der ausgeprägte Gebrauch von halluzinogenen Pflanzen, z.B. Peyote oder Ayahuasca.
Auch im REST DER WELT sind schamanische Traditionen zu finden, wenn man nur genau hinschaut. Es gibt einige Parallelen zwischen schamanischen Bräuchen und den großen Weltreligionen, z.B. das Fasten vor hohen Feiertagen. Schamanische Motive durchziehen nicht nur die Bibel, griechische, römische und skandinavische Sagen, sondern auch unsere Märchen. Ob Jakob und die Himmelsleiter, Orpheus oder Herkules in der Unterwelt, Odin und Yggdrasil oder Hans und die Bohnenstange – all diese Geschichten erzählen von einer Verbindung zwischen der normalen und der oberen oder unteren Welt.
3) Schamanismus im Alltag
Doch wie wird man Schamane? Wird man schon als Schamane geboren oder lernt man es erst? Erbt man die Begabung oder ruht das Talent dazu in jedem von uns? Generell gilt in allen Traditionen, dass die Geister auswählen wer würdig ist, oft durch Träume oder Visionen. Es folgt eine Initiation, deren generelles Thema der Tod und die Wiedergeburt sind. Die alte Persönlichkeit wird abgelegt und eine neue, schamanische Persönlichkeit wird von den Geistern geschaffen. Dadurch erhält der Schamane Einsichten in die Kraft und die wahre Natur der Dinge. Danach folgt eine jahrelange Lehrzeit, in der Geisthelfer und Lehrer den jungen Schamanen in alle wichtigen Bereiche der Schamanenkunst einführen. Dazu gehören auch Musik, Schauspiel und Tanz. Dabei besteht oft kein Unterschied zwischen den „lebenden“ menschlichen und den „toten“ geistigen Lehrern. Werden die Geister nicht respektiert, verliert der Schamane seine Macht.
Während der Lehrzeit erhält der Schamane auch seine ersten schamanischen Hilfsmittel. Meist sind dies Trommel oder Rassel und ein Kostüm. Hier erfährt der Lehrling auch eine fundierte Ausbildung in SCHAMANISCHER TRANCE. Diese ist, anders als z.B. eine meditative Trance oder eine Besessenheit, in hohem Maße kontrolliert. Sie ist gekennzeichnet durch eine gesteigerte Aufmerksamkeit bei gleichzeitiger Verminderung der bewussten Wahrnehmung. Oft wird auch von Ekstase gesprochen, daher hier eine kleine Begriffsklärung:
„TRANCE“ ist ein medizinischer Begriff für einen bestimmten physiologischen Zustand.
„EKSTASE“ bezeichnet zwar eigentlich den selben Zustand, ist aber ein religiöser Begriff.
Merkmale der Trance sind unter anderem Zittern, Schaudern, Gänsehaut, Ohnmacht, Gähnen, Lethargie, Krämpfe, Schaum vor dem Mund, heraustretende Augen, intensive Hitze, Kälte oder Schmerzen, Zucken, lautes Atmen, gläserne Starre und viele mehr.
Vor der Tranceinduktion steht meist eine tagelange Vorbereitung. Dazu können gehören: Meditation und Rückzug aus der Gemeinschaft in die Einsamkeit; körperliche Anstrengung durch schwitzen, fasten oder das Erklimmen eines Berges; und auch die Einnahme von Halluzinogenen. Dazu kommt die starke Verbindung zwischen Musik und Trance in vielen Traditionen. Die rhythmische Regelmäßigkeit von Trommel und Rassel oder Gesang unterstützt die Tranceinduktion. Das Instrument hat darüber hinaus oft eine besondere symbolische Bedeutung: so gilt die Trommel als Führer oder Reittier in der Geisterwelt. Auch besitzen viele Geister ihre eigene „Erkennungsmelodie“. Vielfach gehört auch das Tanzen zur Trance, entweder als Teil der Induktion oder aber hinterher als Möglichkeit, der Gemeinschaft von der Seelenreise zu be-richten.
Heute beschäftigt sich auch die Wissenschaft zunehmend mit dem Schamanismus und den damit verbundenen Phänomenen. So betreibt das „Altered States of Consciousness Consortium“ weltweit Forschung über die neurophysiologischen, neuropsychologischen und psychophysiologischen Mechanismen veränderter Bewusstseinszustände – unter anderem auch in Freiburg, Gießen und Jena. Aus dem Projekt einer Feldstudie zu Schamanismus und Neoschamanismus im deutschsprachigen Raum, die von den zwei Psychologen E. Bauer und Dr. G. Mayer im Jahr 2000 begonnen wurde, ist inzwischen ein Buch entstanden. In den USA hat Peggy A. Wright speziell zu schamanischer Trance mehrere Artikel in Fachzeitschriften veröffentlicht.
Und auch in der breiten Öffentlichkeit ist Schamanismus nicht mehr unbedingt etwas ungewöhnliches. Zahllose Seminare mit schamanischer Prägung werden angeboten, vom Trommelworkshop bis zur Schwitzhütte, von „Finde dein Krafttier“ bis zu „Schamanisch reisen leicht gemacht“. Es hat sich zum Modetrend entwickelt, der leider auch Trittbrettfahrer und geldgierige Scharlatane an-gezogen hat. Das macht es den seriös arbeitenden Schamanen nicht leichter, und auch nicht dem interessierten Laien, der aus der Unmenge von Angeboten und Büchern nun diejenigen heraussuchen muss, die tatsächlich etwas taugen. Doch gibt es auch hoffnungsvolle Zeichen. So berichtete Ende letzten Jahres (also 2003) der SWR in der Sendereihe „WiesoWeshalbWarum“, dass es im Kantonsspital im schweizerischen Glarus seit Jahren üblich ist, eine Heilerin um Rat zu fragen wenn die Schulmedizin nicht mehr weiter kommt.
Schamanismus aus meiner heutigen Sicht
Wie eingangs schon erwähnt, hat sich durch meine schamanische Ausbildung und Initiation mein Verständnis von Schamanismus seit 2004 deutlich verändert. Alles, was nun folgt, ist meine ganz persönliche Meinung, die sich im Laufe der Zeit durch meine ganz persönlichen Erfahrungen gebildet hat. Ich erheben weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Allgemeingültigkeit, sondern möchte lediglich meinen Blick auf den Schamanismus heute als Denkanstoß zur Verfügung stellen. Ebenso möchte ich ganz explizit sagen, dass ich die alten schamanischen Traditionen dieser Welt absolut respektiere, und keinesfalls die Art und Weise in der sie arbeiten herabsetzen oder schlecht reden will. Im Gegenteil – ich glaube, dass nur die Menschen tatsächlich qualifizierte Aussagen über Schamanismus machen können, die ihn live erfahren haben, idealer weise selbst eingeweiht sind. Eine klassisch-wissenschaftliche Beobachtung von Außen, ohne am Geschehen teil zu nehmen, kann meiner Ansicht nach das Wesen der schamanischen Rituale und Traditionen nie wahrhaftig erfassen.
Auch ich bin fest davon überzeugt, dass jeder Schamane gerufen wird. Doch ist es in der heutigen westlichen Welt schon lange nicht mehr so, dass wir als Clan oder Stamm in einer fest umrissenen Gemeinschaft leben. Statt dessen vereinzeln (und vereinsamen) wir immer mehr. Aus der Großfamilie von einst ist, wenn wir Glück habe, die Wahlfamilie der Freunde und Verwandten geworden. Das schamanische Wirken in der und für die Gemeinschaft kann also in der Form, wie es traditionell üblich war, in der Regel gar nicht mehr statt finden.
Wenn wir also heute im Herzen den Ruf der Geister und Ahnen spüren, wenn uns das schamanische Wissen und Wirken mit auf den Lebensweg gegeben ist, dann haben wir in der heutigen Zeit die Wahl. Wir dürfen uns frei entscheiden, ob wir uns dem Ruf verschließen oder ihm folgen. Verschließen wir uns, so passiert nichts schlimmes – es bleibt uns lediglich ein Teil unserer Seele und unseres Potentials verschlossen. Mag sein, dass die Ahnen es noch ein paar Mal versuchen, uns vielleicht Situationen und Begegnungen als Einladung senden, ob wir uns nicht doch für die spirituelle Welt öffnen wollen. Aber es ist kein Zwang mehr dahinter. Und manchmal sind mir auch schon Menschen begegnet, die ihre schamanische oder spirituelle Kraft ganz selbstverständlich im Alltag leben, dies aber nicht bewusst tun, geschweige denn es so nennen.
Wenn wir uns bewusst dazu entschließen, dem Ruf im Herzen zu folgen, dann stehen wir als „Weiße“ in Europa heute oft vor dem Dilemma, dass die ursprünglich heimischen schamanischen Traditionen schon seit Jahrhunderten aus der Öffentlichkeit verschwunden sind. Christianisierung, Sachsenkriege und nicht zuletzt die Hexenverfolgung haben dafür gesorgt, dass unsere europäisch-schamanischen Wurzeln kaum noch gelebt werden. Nicht jeder hat das Glück, in eine Familie geboren zu werden, wo das alte Wissen noch traditionell weitergegeben wird. Solche Familien gibt es tatsächlich noch überall in Europa, sie haben aber meist leidvoll gelernt, im Geheimen zu bleiben und sich auf keinen Fall in der Öffentlichkeit zu ihrem Wissen und ihren Traditionen zu bekennen. Statt dessen leben wir in einer säkularisierten Welt, in der oft alles, was nicht mit messbar und wissenschaftlich bewiesen ist bestenfalls wohlwollend als Aberglaube oder Exzentrik, schlimmstenfalls als Scharlatanerie, Idiotie oder psychiatrisch zu behandelnde Erkrankung gewertet wird. Also was tun?
Ich glaube, dass wir in dem Moment, wo wir im Herzen „Ja“ sagen, auch zu den Lehrern geführt werden, die uns an unser schamanisches Erbe wieder erinnern. Ob dies Lehrer sind, die in einer traditionellen schamanischen Linie stehen (sibirisch, süd-, mittel- oder nordamerikanisch, indisch oder anderweitig) oder ob es Lehrer sind, die „neue“ „moderne“ Traditionen lehren (Core-Schamanismus, Gaia-Schamanismus, Tribe of Many Colours, die Tradition der 7 Heiligen Stämme), ist meiner Meinung nach zweitrangig. Es kommt zu jedem genau der Lehrer, der passt – und für die meisten Menschen ist dies eben zunächst ein lebender menschlicher Lehrer. Gelegentlich kommt es auch vor, dass uns zunächst passende Bücher, CDs oder Filme begegnen, die die Sehnsucht nach einem menschlichen Lehrer schüren und gleichzeitig eine Form von Selbsterfahrung anregen, die uns erste Schritte in die richtige Richtung machen lässt. Letztendlich werden wir genau den Weg gehen, der für unsere Seele der richtige ist.
Das einzige Prüfkriterium, das ich an einen Lehrer immer anlegen würde, besteht in der Frage, ob aus dem Herzen und der Liebe heraus gelehrt wird – oder ob monetäre, egozentrische, oder gar manipulativ-sektenhafte Motive dahinter stehen. Leider braucht es oft eine Weile, bis man die einen von den anderen unterscheiden kann. Führt der Lehrer uns zur Eigenständigkeit und Erdung, gibt uns Wurzeln damit uns auch Flügel wachsen können, und zeigt er uns den Weg, wie wir unser eigenes schamanisches Wissen wieder bergen können, dann ist die Quelle seiner Tradition – also ob er sie von einem menschlichen Lehrer übertragen bekam oder ob er sie aus der geistigen Welt, von den Ahnen und Krafttieren empfangen hat – für mich eher unwichtig. Wenn jedoch eine Abhängigkeit zum Lehrer innerlich und/oder äußerlich aufrecht erhalten wird, wenn immer mehr Geld fließen muss um überhaupt den nächsten Schritt tun zu können und die Tradition als die einzig wahrhaftig selig machende verkauft wird, alle anderen Traditionen und Heilmethoden (auch oder gerade die Schulmedizin) abgewertet oder verteufelt werden, dann sollte man meiner Meinung nach die Finger davon lassen.
Das bedeutet meiner Meinung nach NICHT, dass ein Schamane für seine Arbeit kein Geld verlangen darf! Wir leben nun einmal in einer Welt, in der Geld das üb-liche Austauschmedium ist, und eben nicht mehr Naturalien, Kleidung oder Arbeitskraft. Wenn ein Schamane ein Heilungsritual oder eine Einweihung vollzieht, ist das was energetisch-spirituell passiert, sicher nicht bezahlbar oder mit einem Geldwert zu messen. Die Zeit, die in die Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung fließt, die verwendeten Materialien und all die anderen weltlichen Zutaten, die in das Ritual fließen jedoch, die sind durchaus bezahlbar. Von so banalen Dingen wie Raummiete, Stromkosten und möglicherweise An- und Abreise ganz zu schweigen. Bei Elektrikern, Ärzten oder Pannendiensten ist es für uns selbstverständlich, für ihre Hilfe mit Geld zu bezahlen. Warum sollten wir es bei Schamanen also anders halten?
Was sehe ich heute noch anders, als vor meiner Initiation. Oft ist die schamanische Trance meiner Erfahrung nach wesentlich schneller und weniger qualvoll zu erreichen, als es in vielen alten Traditionen praktiziert wurde. Natürlich gehört dazu eine Menge Übung, und Meditation, Trommeln, Singen, Tanzen oder eine Schwitzhütten-Zeremonie sind sicherlich hilfreich. Auch die Energie einer großen Gruppe, die mit trommelt und singt, hilft immens. Es kann aber auch ein bewusster Atemzug reichen um sich innerlich für die Verbindung mit der nicht alltäglichen Wirklichkeit zu öffnen und mit den Spirits in Kontakt zu treten. Für mich sind meine geistigen Helfer jederzeit da, jederzeit erreichbar – und für mich ist die Kommunikation mit ihnen inzwischen so alltäglich wie der kurze Schwatz mit der Nachbarin. Dadurch ist es heute auch möglich, schamanische Heilrituale in einer deutlich kürzeren – und unserer westlichen Alltagsrealität deutlich besser entsprechenden – Zeitspanne zu vollziehen. Wie üppig das Ritual gestaltet wird und wie viel Zeit es dann eben auch braucht, kann meiner Erfahrung nach durchaus oft – aber eben doch nicht immer – den äußeren Umständen angepasst werden. Auch die Aufteilung der nicht alltäglichen Wirklichkeit in Ober-, Mittel- und Unterwelt ist für mich persönlich nicht so streng, wie das in traditionellen Kulturen oft gehandhabt wird. Zwar kenne auch ich Reisen nach „oben“ in die himmlischen Sternenwelten und nach „unten“ in den Schoß von Mutter Erde, doch gibt es meiner Erfahrung nach noch viele andere Ebenen in die gereist werden kann, und die sich nicht so einfach in die eine oder andere Schublade stecken lassen.
Die Tradierung des Wissens im Rahmen einer traditionellen Stammesanbindung ist für mich also heutzutage nicht mehr ausschlaggebend für die Qualität der Arbeit, die der Schamane tut. Wer sich der schamanischen Sichtweise auf die Welt öffnet, der öffnet sich eben auch für die Welt der Spirits, Krafttiere, Ahnen und anderen in der Regel nicht sicht- und berührbaren Wesen. Ich habe in den Initiationen und auch später die Erfahrung gemacht, dass es oft gerade die Lehrer aus der geistigen Welt sind, die uns die intensivsten Lektionen erteilen und uns zu tiefem Wissen und tiefer Heilung führen. Auch in diesem Punkt bin ich ganz bei den traditionellen Schamanen – und darin liegt für mich auch eine Menge Trost! Denn viele traditionelle Schamanen, die Europa und speziell Deutschland oder Österreich besucht haben, schütteln die Köpfe darüber, dass wir in „fremden“ Traditionen unser Heil suchen. Sie alle sagen, dass unsere eigenen schamanischen Traditionen nicht verloren ist, sondern in den Bergen und Bäumen und Flüssen, den Winden und den Spirits unserer Landschaften weiter leben – und wenn wir nur wieder lernen auf sie zu lauschen, können wir unsere eigenen Traditionen wieder zum Leben erwecken. Wo und wie wir das Lauschen gelernt haben, ist nicht wirklich wichtig – meine ich jedenfalls – so lange wir mit dem Herzen lauschen und aus der Liebe heraus mit der „anderen“, der geistigen Welt in Kontakt treten.
Literatur und Information
- Mayer, G. (2003): Schamanismus in Deutschland. Konzepte – Praktiken – Erfahrungen. Würzburg: Ergon.
- Passie, T. (1999): Schamanismus. Eine kommentierte Biographie 1914 – 1998. 3.A., Hannover: Laurentius
- Rosenbohm, A. (Hrsg.) (1999): Schamanen zwischen Mythos und Moderne. Leipzig: Militzke Verlag
- Vaitl, D. (2003): Veränderte Bewusstseinszustände. Stuttgart: Franz Steiner Verlag.
- Vitebsky, P. (2001): Schamanismus. Köln: Taschen
- Walsh, R.N. (1992) Der Geist des Schamanismus. Olten/ Freiburg: Walter Verlag
Im Internet:
- Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene e.V.: www.igpp.de
Weitere Literaturempfehlungen:
- Storl, W.-D. (2011): Schamanentum – Die Wurzeln unserer Spiritualität. Bielefeld: Aurum Verlag
- Lüpke, G. von (2008): Altes Wissen für eine neue Zeit – Gespräche mit Heilern und Schamanen des 21. Jahrhunderts. München: Kösel Verlag